Samstag, 11. Juli 2020

Millenial

Es ist nur ne Woche her, da war ich noch ein verträumter junger Mensch Anfang zwanzig ohne größere Pflichten und Ambitionen. Ließ mich so treiben, machte Pläne höchstens zwei Tage im Voraus und war bis vor kurzem finanziell abhängig von meinen Eltern. Musste noch nicht wissen, was ich denn wirklich wollte, ne Ausbildung erstmal machen aber wenn’s doch nicht das Wahre war, hatte man ja eh noch ewig Zeit, doch was anderes zu machen und zu studieren, nochmal zur Selbstfindung reisen zu gehen usw. Das ganze Leben lag ja noch vor einem. Bloß keinen Stress, wer weiß denn heutzutage schon, was er*sie wirklich will? Gedanken und Gespräche über die Rente, Kinderwünsche, Steuererklärungen, allgemeine Zukunftsplanung, Hochzeiten, Rollrasen, Tagesschau und lebenslange Partnerschaften waren was für Spießer, im hier und jetzt leben war angesagt.
Tja... vorbei ist es nun mit dem Spaß, mit der Blütezeit meiner Jugend, dem verantwortungslosen, freien, sorglosen Dasein. Nach dem Überschreiten der unsichtbaren Grenze nähere ich mich nun unweigerlich der 30 und gehöre ab jetzt zu den Mittzwanzigern. Mitte zwanzig... da sollte man dann doch auf einmal schon irgendwie mitten im Leben stehen ein Minimum an Kompetenz ausstrahlen.
Irgendwas cooles machen, was erreicht haben, am besten spirituelle Weisheit.
Wünschte ich wäre Mitglied einer Band, Surflehrerin oder beides, wünschte ich würde bei Regen keine schlechte Laune bekommen sondern trotzdem zelten gehen, wünschte ich würde in einer Kommune leben und nicht grad in meinem grün-gelb gestrichenen Jugendzimmer abhängen und mich dabei NICHT wie eine autonome Mittzwanzigerin verhalten. (Mein nächstes Zimmer sollte ich wieder mal in bunten Farben streichen, es gibt mir irgendwie ein heimisches Gefühl) Wünschte ich könnte meine Meinung vor allen möglichen Leuten selbstsicher vertreten und Diskussionen zu relevanten Themen führen, wünschte ich würde nicht so oft aus Überforderung anfangen zu heulen und mir sicher(er) sein über meine Berufswahl, den Sinn des Lebens, die Liebe, meine Beziehungen zu anderen Menschen, meine Wochenendpläne, meine Outfitauswahl und vieles mehr.
Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Je älter ich werde, desto weniger weiß ich was ich will und zwar in jeglichen Bereichen meines Lebens. Das Privileg der angeblichen Entscheidungsfreiheit zwischen endlosen Möglichkeiten kann da auch nicht ewig als Begründung herhalten.
Fast jede getroffene Entscheidung lässt mich dennoch im Nachhinein zweifeln, ganz zu schweigen von in Zukunft anstehenden Fragen des Lebens. Was ich im einen Moment für richtig halte, das kommt mir im nächsten wieder falsch und undurchdacht vor. Ständig falle ich mir in Gedanken selbst ins Wort, sodass eine ordnungsgemäße Teilnahme an meinem eigenen Leben nicht möglich ist.
Was also habe ich erreicht? Eine staatlich anerkannte Prüfung zur ausgebildeten Ergotherapeutin erfolgreich abgeschlossen. Alltagstherapeutin, Arbeitstherapeutin, Lösungssucherin, Alles-und-nichts-Therapeutin könnte man mich auch nennen. Die Ausbildung überlebt. Einen Job gefunden. Einen Haushalt führen gelernt (mehr oder weniger). Bald mit dem Schatz zusammenwohnend.
Mich selbst gefunden. Haha Spaß. Wenn dann nur kurz und mich gleich wieder verloren. Partys gefeiert. Mich ausprobiert, ein bisschen (kommt ja immer auf den Vergleich an). Nicht gewusst, was ich wollte. In Städten gelebt. WG-Zimmer gefunden, Mietverträge unterschrieben und gekündigt. Schlaue Bücher gelesen und mich mega erwachsen und intellektuell gefühlt. Mehr oder weniger radikale Meinungen gehabt und sie wieder geändert. Freunde gewonnen. Fremde Menschen kennen gelernt.
In romantischen Komödien feiern 30-40jährige dauernd in schicken Clubs ab, gehen regelmäßig in Bars, lernen Leute kennen, flirten rum und sehen dabei auch noch gut aus. Wohnen in stylischen WGs mit ihren FreundInnen und verdienen ihr Geld nebenbei, während sie aber vorwiegend andere hippe Dinge tun und sich anscheinend keinerlei erwachsene, zukunftsträchtige Gedanken machen sondern einfach nur Spaß haben. Geil wärs, aber leider sieht die Realität anders aus: Man zieht aus der chaotischen WG in eine eigene Wohnung oder gar mit dem*der PartnerIn zusammen, sieht die Freunde seltener, unterhält sich über Gehalt, Jobaussichten, Kinder und Handtaschen.
Zurzeit mal wieder etwas düster-dystopisch drauf, aber es tut doch immer wieder gut, sich dem Tagebuch anzuvertrauen und mein zynisch-nett-gemeinter Ratschlag an mich selbst lautet heute:
LEB DOCH MAL. Würd ich mir sogar als Wand-Tattoo in die Küche hängen.


                                       
                     Mein aktueller Crush *.*